Eine Schule für Weltmeister

Wer Olympiasieger werden will, muss bereits als Jugendlicher viele Stunden täglich trainieren. Damit die Schulausbildung nicht zu kurz kommt, bieten Eliteschulen des Sports beides: intensives Training und Bildung. Ein Besuch in Berchtesgaden.

Die Christophorusschule in Berchtesgaden ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Schulalltag und den Traum von der sportlichen Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber es gilt die Devise: Die Noten müssen stimmen, sonst bekommt man für die Wettkämpfe nicht frei. Alle Bilder: Katarina Alt
Die Christophorusschule in Berchtesgaden ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Schulalltag und den Traum von der sportlichen Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber es gilt die Devise: Die Noten müssen stimmen, sonst bekommt man für die Wettkämpfe nicht frei. Alle Bilder: Katarina Alt

Ein Himmelreich für einen Griff! Aber: nichts. Nur dieser kleine blaue Knopf in Form einer halben Pflaume am oberen Ende der Kletterwand, anderthalb Meter über ihr. Was gibt ihr bis dahin Halt? In zwölf Metern Höhe zittern die Knie, die Füße stecken in engen Kletterschuhen und versuchen, auf winzigen Tritten Halt zu finden, das graue T-Shirt mit dem Aufdruck „Tegernsee“ bekommt dunkle Schweißflecken. Die unten schert das nicht. Unten stehen die Kameramänner. „Vicky, schau zu mir“ ruft einer. Aber wie?

Viktoria Rebensburg, die alle nur Vicky nennen, hat keine Kraft und keine Zeit, sich umzudrehen. Ihr bleiben nur wenige Sekunden, bis ihre Hände abrutschen. Sie will oben ankommen. Die Ski-Olympiasiegerin im Riesenslalom will auch im Sommer alles geben, gerade bei diesem Termin, dem Medientag der Alpinen Damen-Nationalmannschaft.

Der Spitzname Vicky ist ein Relikt aus Viktoria Rebensburgs früherem Leben, dem Leben vor dem 26. Februar 2010: An diesem Tag fuhr die Abiturientin aus Berchtesgaden den Riesenslalom in Vancouver schneller als alle Konkurrentinnen. „Viktoria Rebensburg fährt wie ein Kerl“, titelte eine Zeitung, „schnell, wild und gefährlich.“ An diesem Sommertag wirkt die 20-jährige Studentin nicht wie ein Kerl und auch nicht wild und gefährlich. Eher sehr weiblich: eine junge Frau mit rundem Gesicht, dunklen wachen Augen, braunem Zopf, ordentlich gekämmtem Seitenscheitel und dezenten Ohrringen.

„Vicky“ steht auch unter einem Foto im Internat der Christopherusschule des Christlichen Jugenddorfwerkes (CJD) in Berchtesgaden. Noch so ein Relikt. Viktoria Rebensburg zieren darauf ein violettes Abendkleid und ein unsicheres Grinsen. Daneben zwei weitere Fotos mit Mädchen in Ballkleidern. „Unsere Abimädels 2010 vom Haus Jenner“, steht darüber. Die Christophorusschule vereint Gymnasium, Real-, Hauptschule und Internat und ist eine der bundesweit 40 Eliteschulen des Sports. Derzeit werden 11.300 junge Talente in solchen Schulen gefördert, mehr als die Hälfte der deutschen Olympiateilnehmer in Vancouver lernte wie Viktoria Rebensburg in Eliteschulen. In Berchtesgaden drücken vor allem Skifahrer, Langläufer und Bobfahrer die Schulbank. Unter anderen haben hier Maria Riesch und Evi Sachenbacher gelernt, elf Medaillen der Winterspiele in Vancouver gingen aufs Konto ehemaliger CJD-Schüler. Die Lage auf 1.200 Metern Höhe am Rande eines Skigebiets ist ideal für Wintersportler.

„Duale Karriere“ nennt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) das Ziel der Elitesportschulen: Nachwuchstalente sollen genügend Zeit für den Sport haben, ohne die Schule zu vernachlässigen. „Eine normale Schule zu besuchen ist bei dem Trainingsumfang im Skikader nicht möglich“, sagt der Bundestrainer der Alpinen Damen-Nationalmannschaft Thomas Stauffer. Die Skifahrerinnen im Nationalkader trainieren jeden Tag vier bis fünf Stunden, auch im Sommer: Radfahren, Joggen, Hanteltraining, ein Trainingslager auf Zypern, Skitraining in Neuseeland oder Chile. Im Herbst geht’s nach Zermatt auf den Gletscher, im Winter ist beinahe jedes Wochenende ein Rennen, teilweise mit langer Anreise. Ein atemloses Leben.

Ersatz für die Weltspitze?

In den Gängen des Berchtesgadener Internats trifft man viele andere Mädchen mit genau dem gleichen Traum wie Vicky. Hinter den Fenstern des Bauernhauses mit dem hölzernen Obergeschoss, den Blumen und dem großen Garten arbeiten sie mit Blick auf Kühe und Berge auf einen ganz besonderen Gipfel hin: die Weltspitze. Und gleichzeitig am Ersatzplan. Wovon leben, wenn die Karriere als Sportlerin nicht klappt?

„Die Noten müssen stimmen, sonst kriegst du nicht frei“, sagt Sandra Weiß. Die 15-jährige Schülerin könnte mit ihrer sommersprossigen Stupsnase, der Zahnspange und dem blonden Pferdeschwanz direkt einem Astrid-Lindgren-Buch entsprungen sein. Sie sitzt auf ihrem Bett im Haus Jenner und wartet auf ihren Trainer. Der kommt seine Schützlinge vom Jugendkader persönlich im Internat abholen und redet bei der Gelegenheit mit den Lehrern. Mit ihnen muss er oft hart verhandeln:

Lernen gegen Trainieren – Freizeit gibt es fast keine. Wer schlechte Noten hat, muss nach dem Training zur Nachhilfe. Sandra lernte Ski fahren kurz nach dem Laufen. Mit drei Jahren fuhr sie hinter ihrem Vater die Hänge ihrer Heimat im Bayerischen Wald hinunter, mit sieben ihr erstes Rennen. Sie ist neu am Internat. Ihr Trainer riet ihr zum Schulwechsel, weil die Lehrer ihrer alten Schule das Berufsziel „Ski-Weltmeisterin“ nicht ernst nahmen. Seit sie in Berchtesgaden die achte Klasse der Realschule besucht, ist sie nicht mehr viel zu Hause. „Das war eine Umstellung, im Internat muss man alles selbst machen, auch Wäsche waschen“, sagt sie. Dafür wird ihr Traum hier ernst genommen.

Förderung durch Sporthilfe und Sparkasse

Damit diese Chance nicht nur Gutbetuchte haben, fördert die Sporthilfe die Kadermitglieder. Auch die Sparkassen-Finanzgruppe tritt als Sponsor auf. Statt 1.250 Euro muss Sandra nur 400 Euro Gebühr fürs Internat bezahlen. Dafür akzeptiert sie einen straff durchgeplanten Tag, der oft morgens um sieben Uhr mit einer Trainingseinheit vor der Schule beginnt und abends nach Training und Lernzeit um 20 Uhr endet.

Sandra wird abgeholt und setzt sich neben zwei ihrer Teamkolleginnen in den blauen Bus des Deutschen Skiverbandes. Trainer Richard Schütze, ein junger Mann mit gelbem Basecap und Dreitagebart, nimmt die Kurven des Berchtesgadener Landes schwungvoll, aus den Lautsprechern dröhnt „Forever young“, die Mädels singen mit. Sandra isst einen Energieriegel und schaut auf ihre Pulsuhr: 78. Das wird sich bald ändern. Die Partystimmung hält nur bis zum Sportplatz im Tal.

„Achtmal 800 Meter schnelles Laufen“, verkündet der Trainer. Sandra schaut wieder auf ihre Pulsuhr. Für sie heißt das: ein Puls von 185. „Ach Ritschie“, stöhnt eines der Mädchen, „eigentlich muss ich lernen – wenn ich morgen die Schulaufgabe verhaue, falle ich durch.“ Der Trainer bleibt hart. „Das machst du heute Abend.“

Richard Schütze weiß um das Damoklesschwert über den Mädchen. Ein Kader lässt seine Mitglieder schneller fallen als eine Schule. Wer in der Saison nicht die entsprechende Leistung bringt, ist schnell wieder draußen. Dann ist es aus mit der Unterstützung der Sporthilfe. Wer nach dem Abi oder der mittleren Reife den Kader nicht schafft, bekommt keinen der begehrten Plätze beim Zoll, bei der Bundespolizei oder der Bundeswehr, die Vollprofis fürs Trainieren bezahlen. Berchtesgaden ist voll solcher geplatzter Träume. Aber das Leben geht weiter.

Training und Nachhilfe

An diesem „weiter“ arbeitet der Rektor des Christophorusgymnasiums. Während die Mädels „Forever young“ singend im Trainingsbus durch die Berge fahren, tüftelt Thomas Schröder-Klementa Nachhilfepläne aus. Er weiß, dass seine Schüler eben nicht für immer jung sind. „Die Kinder haben jetzt andere Prioritäten“, sagt er lächelnd, „aber wir müssen auch an ihre Zukunft denken.“ Wer im Kader ist, bekommt deshalb besondere Unterstützung durch Nachhilfe oder die Möglichkeit, den versäumten Unterricht in den Ferien nachzuholen.

Manchmal muss Schröder-Klementa aber auch gegen die sportliche Karriere entscheiden: „Wer im Oktober auf 6 steht, den kann man die Saison nicht wegschicken.“ Rektoren an klassischen Schulen ziehen die Grenze früher. Wäre Viktoria Rebensburg an ihrer alten Schule in Kreuth am Tegernsee geblieben, wäre sie wohl keine Olympiasiegerin geworden. „Im Winter war ich fast nie in der Schule“, erinnert sie sich, „das ging dort nicht mehr.“ Ab der zehnten Klasse lernte sie in Berchtesgaden und schaffte neben dem Training einen Abischnitt von 2,4. „Undenkbar ohne Elitesportschulen“, sagt sie. Heute studiert sie neben dem Training Sportmanagement. Teil ihrer Strategie für das Leben nach dem Profisport.

Vielleicht brauchen Olympiasieger genau diesen Ehrgeiz. Rektor Schröder-Klementa hat seine Schülerin Vicky einst bei einem Weltcup beobachtet. „Sie war gut, sehr gut, aber es hatte ihr damals nicht gereicht. Sie wollte immer mehr.“ Der Schulleiter schätzt diesen Schülertyp. Ehrgeiz im Sport und Ehrgeiz in der Schule gehören oft zusammen. „Evi Sachenbacher hatte ein Einserabitur, Maria Riesch hat sich ebenfalls in die Schule reingehängt“, erinnert er sich.

Der Traum von Olympia 2018 eint die Schülerinnen der Christophorusschule. Vicky träumt ihn bereits öffentlich. „Olympia 2018 müsste vom Alter her gerade noch passen“, sagt sie am Ende der Pressekonferenz im Allgäu in das große buschige Mikrofon eines dicken Mannes im rosa Poloshirt. Der Kameramann nickt zufrieden. Solche Antworten erwartet er von einer Olympiasiegerin. Sandra und die anderen Schülerinnen der Christophorusschule kann er nicht fragen – er kennt sie nicht. Noch nicht.


  • Die Christophorusschule in Berchtesgaden ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Schulalltag und den Traum von der sportlichen Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber es gilt die Devise: Die Noten müssen stimmen, sonst bekommt man für die Wettkämpfe nicht frei. Alle Bilder: Katarina Alt
    Die Christophorusschule in Berchtesgaden ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Schulalltag und den Traum von der sportlichen Karriere unter einen Hut zu bringen. Aber es gilt die Devise: Die Noten müssen stimmen, sonst bekommt man für die Wettkämpfe nicht frei. Alle Bilder: Katarina Alt
  • Mehrere Stunden täglich trainiert Sandra Weiß für ihr großes Ziel. Das Gleichgewicht zwischen Schule und Training zu halten erfordert viel Disziplin.
    Mehrere Stunden täglich trainiert Sandra Weiß für ihr großes Ziel. Das Gleichgewicht zwischen Schule und Training zu halten erfordert viel Disziplin.